Andacht
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Zuviel ist zu wenig
Zwischenruf
von Hermann Bollmann
Von vielem gibt es zu viel: Bei fast allen Partys und Festessen bleiben riesige Mengen auf den Buffets zurück. Die Angebote in den Supermärkten sind unüberschaubar. Es gibt zu viel Auswahl. Es gibt zu viel Termine, zu viel Unterhaltungsangebote. Es gibt mehr Informationen als wir aufnehmen können. Es gibt zu viel Lärm, zu viel Müll, zu viel Inszeniertes, zu viel Wichtigtuerei.
Von vielem gibt es viel zu wenig: Zu wenig Fürsorge für die Alten, zu wenig Hebammen für die Gebärenden, zu wenig Nahrung für die Hungernden, zu wenig Gerechtigkeit für die Unterdrückten, zu wenig Chancen für die Benachteiligten. Zu wenig Verständnis für die Fremden, zu wenig Zeit für das, was man „eigentlich“ tun müsste.
„Wir haben keine Zeit!“ Es gibt zu viel, was man noch sehen müsste, wohin man noch reisen müsste: Siebzig Jahre soll das Leben dauern. Wenn’s hoch kommt, achtzig. Das ist doch viel zu wenig.
Aber: Mozart wurde nur 35, Bonhoeffer 39. Die Malerin Paula Modersohn-Becker wurde nur 30. Im Angesicht ihres Todes schrieb sie: “Ist ein Fest schöner, weil es länger ist?“ Ist es also wirklich die Zeit, die uns fehlt? Jemand sagte: „Früher lebten die Menschen vierzig Jahre und danach eine Ewigkeit. Heute leben sie neunzig und erwarten danach nichts mehr.“
„Ewigkeit“ – das Wort benutzen wir eigentlich nur, um unsere Hilflosigkeit bei scheinbar endlosem Warten auszudrücken: „Das dauert ja eine Ewigkeit“.
Erklären können wir uns das Wort nicht, denn „ewig“ ist die „Eigenart“ Gottes. Er ist Ursprung und Ziel allen Seins. „Ewiges Leben“ ist kein unendliches Leben, denn auch das Sterben gehört zu unserem Leben. Wer das verdrängen will, betrügt sich um etwas, was für sein Leben wesentlich ist. Wer sich jedoch auf die Ewigkeit hin ausrichtet, findet darin Ziel und Maß.
Das ist es: Was uns fehlt, ist nicht Zeit. Was uns fehlt, ist Ewigkeit. Viele leben auf großem Fuß und werden kleinlich. Das Leben bleibt ihnen wegen Überfüllung verschlossen.
Es kommt nicht darauf an, dem Leben mehr Jahre zu geben,
sondern den Jahren mehr Leben.
Alexis Carrel (1873-1944) franz. Nobelpreisträger (Medizin)